Versperrter Blick auf sich selbst

von Simone Kaempf

Als Dea Lohers neues Stück im vergangenen Sommer erschien, war die Überraschung auch bei jenen groß, die einen ganz guten Überblick über ihre Arbeit haben. Denn "Am Schwarzen See", Lohers sechzehnter Theatertext, wirkte nach den zuletzt panoramahaft ausgearbeiteten Stücken "Diebe" und "Das letzte Feuer", die inmitten von Schicksalsgemeinschaften spielen, auf einmal wesentlich reduzierter, konzentriert auf nur vier Personen. Aber auch viel düsterer und lastender als zuvor.

Vielleicht ist es vom Thema her wirklich ihr bisher schwerstes Stück, das sich konsequent in die Sphären der bohrenden Sinnfragen begibt, dorthin, wo Antworten nicht so leicht zu haben sind. Zwei Paare, Else und Johnny, Cleo und Eddie, treffen sich nach längerer Zeit wieder. Der Ort ist ein Haus am See. Vor vier Jahren haben sich ihre beiden Kinder, 15-Jährige Heranwachsende, hier gemeinsam das Leben genommen. Einen kurzen Abschiedsbrief hinterließen sie, ohne Erklärungen auf die Frage nach dem Warum. Nun kommen die Eltern wieder zusammen, reden über ihre Leben, das Weitermachen-müssen und doch nicht Weiter-können, das Vergessen-wollen, aber In-Erinnerung-verharren.

In Sinnfragen verhakt

Der Tod eines Kindes war auch in Lohers "Das letzte Feuer" die Ausgangsbasis, um eine Gruppe gezeichneter Figuren zusammenzubringen. In dem Text ließen sich dem größten Unglück jedoch noch bizarre, tragikomische, geradezu groteske Seiten abgewinnen. In "Am Schwarzen See" ist mit der Verzweiflung kein Scherz mehr zu treiben. Ein tiefer, im Grunde unaussprechbarer Schmerz läuft in diesem Text ständig mit.

AmSchwarzenSee2 700 Thomas MuellerMobiliar schultern: Andreas Jeßing, Andrea Strube, Nadine Nollau, Meinolf Steiner © Thomas Müller

Wie lässt sich das auf die Bühne bringen? Realistisch? Auf Distanz gehend? Oder körpersprachlich ausagiert wie in Andreas Kriegenburgs Uraufführung? Wojtek Klemm wählt in seiner Inszenierung in Göttingen, der Zweitaufführung nach Kriegenburgs Arbeit am Deutschen Theater Berlin, ein anderes Extrem, rückt nicht eine diffuse Atmosphäre, sondern die Figuren in den Mittelpunkt. Er zeigt sie durchaus in Sinnfragen verhakt, und doch bleibt immer klar, dass ihr Schmerz auch ohne den Verlust der Kinder existent sein könnte.

Leben, Sehnsüchte, Arbeit

Auf der Bühne wird auf einer großen Holzterrasse gespielt, der Schriftzug "Seeblick" leuchtet im Bühnenhintergrund, weiße Plastikstühle verbreiten so etwas wie Ausflugsstimmung, und doch herrscht nicht Gemütlichkeit, dazu wirkt dieser Raum zu groß und zu leer. In einer Bewegungschoreographie kommen anfangs beide Paare, gespielt von Nadine Nollau, Andrea Strube, Andreas Jeßling und Meinolf Steiner, zusammen, fast unbeschwert. Ist ihnen wirklich Schlimmes widerfahren? Sie erzählen es, aber spielen den Schmerz nicht aus.

Wenn sie über die Ereignisse in der Vergangenheit sprechen, die Details des Kinderselbstmords etwa, als sie auf den See ruderten, Schlafmittel nahmen und ein Leck in den Boden des Boots schlugen, sitzen sie wie festgenagelt auf ihren Stühlen, als wäre das der maximal nötige Halt. Mehr noch reden sie jedoch über die Gegenwart, vor allem über sich selbst. Johnny spricht darüber, wie er Trost in sexuellen Eskapaden sucht, seine Frau Else fragt am hartnäckigsten nach Erklärungen, Cleo hält die überschuldete Brauerei am Laufen. Es sind bürgerliche Lebensvisionen, die Loher schon im Stück beschreibt und die Wojtek Klemm in seiner Inszenierung betont. "Im Grunde ist der Selbstmord ein Katalysator, um den Figuren dabei zuzuschauen, wie sie über ihr Leben, ihre Sehnsüchte und ihre Arbeit reden. Es zeigt auch diese Verwicklung in die Ökonomie, wer kann sich davon schon freimachen? Und am Ende versperrt das auch den Blick auf sich selbst", beschreibt Klemm die Setzung des Stücks. Für ihn ist das der Schlüssel, um mit denen, die im Stück trauern, überhaupt mitzukommen.

Gefangene ihres Daseins

Dass er das Stück in Göttingen inszeniert, war vereinbart, bevor Loher es fertig geschrieben hatte. Die Situation ähnelte also der einer Uraufführung, wobei Klemm sagt, dass es für ihn generell keinen Unterschied mache, denn "auch bei einer Zweitaufführung inszeniere ich ein Stück zum ersten Mal". Andreas Kriegenburgs Berliner Inszenierung habe er bei Probenbeginn nicht angeschaut, grundsätzlich nicht, um sich bewusst den Kopf für den eigenen Zugang zum Stoff freizuhalten.

Klemms Inszenierung ist leichter. Der Schmerz drängt sich nicht auf. Kleine komödiantische Einlagen sind eingebaut, mal schenken sich die Darsteller großzügig ihre Kännchen auf der Terrasse ein, dann steigen sie verrenkt in ein angedeutetes Blumenbeet. Der Schauspieler Meinolt Steiner entblößt irgendwann ein T-Shirt mit dem Aufdruck 4.48, ein Seitenwink auf das düstere letzte Stück von Sarah Kane, und natürlich auch ein Distanzierungsversuch.

Es gibt sehr emotionale Momente, aber eben auch komische Szenen. Ja gelacht werden darf an diesem Abend, der komödiantische Kontrapunkte bewusst gegen den Schmerz setzt – und Lohers Assoziationsraum über diesen Weg mühelos zu öffnen schafft. Denn je mehr die vier Paare auf der Terrasse ihre Stühle rücken, ein Tänzchen einlegen oder den Seeblick genießen, wirken sie wie Gefangene ihres Dasein, zusammen, aber jeder allein. Eingekerkert in die Sinnfragen, die es immer wieder zu beantworten gilt, aber auch in den Lebensplänen, die sich im Kreis drehen. Ein Haus, ein Job bei der Bank, genügend Geld. Aber schließt das die Lücke? Im Moment absoluter Entfremdung, die Klemm in seiner Inszenierung groß macht, jedenfalls nicht.

  

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