Öffnung ins Ephemere

von Christian Rakow

Berlin, April 2013. Vielfalt ist Trumpf. Dass der neu eingerichtete Heidelberger Jugendstück-Wettbewerb nicht nur Dramatiker-Schreibtische durchstöbert, sondern diverse Formen von Textarbeit im Gegenwartstheater präsentieren will, hatte sich schon bei der Premiere im letzten Jahr angedeutet. Da war unter anderem die Romanadaption "Tschick" von Robert Koall nach dem Meisterwerk von Wolfgang Herrndorf eingeladen – eine eher dramaturgische denn originär schriftstellerische Arbeit, die seit ihrer Uraufführung in Dresden landesweit zu dem Theaterhit schlechthin avancierte. In diesem Jahr wartet Heidelberg nicht nur mit einer neuen, wenngleich durchaus freieren Romananeignung auf: mit "No und ich" von Juliane Kann nach dem Buch der Französin Delphine de Vigan (uraufgeführt am Jungen Staatstheater Braunschweig). Es zeigt auch – und das ist die ungleich größere Überraschung – den Tanzabend "Weiße Magie" von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen aus dem Moks Bremen (der Kinder- und Jugendsparte des Theaters Bremen). In "Weiße Magie" ist der Text durch und durch "performativ", also fest verknüpft mit der Inszenierung und ihren Schauspielern (dem ivorischen Lead-Tänzer Gotta Depri aus Gintersdorfers Mannschaft und den Moks-Ensemblemitgliedern Christopher Ammann, Anna-Lena Doll und Lisa Marie Fix).

Physischer Artikulation zuspielen

Im Kontext von Stücke-Festivals, die traditionell von nachspielbarer Theaterliteratur ausgehen, stellt diese Textsorte immer noch die Ausnahme dar. Eher ein Strohfeuer war im Nachhinein betrachtet der umstrittene Sieg von Rimini Protokoll mit dem Recherchetext "Das Kapital. Erster Band" beim Mülheimer Dramatikerpreis 2007. Der Stückemarkt des Berliner Theatertreffens hat jüngst 2012 ein Programmfenster für performative Texte eingerichtet. Inwieweit damit eine Öffnung der literarisch orientierten Festivals für eine gängige Praxis des Theaterschaffens eingeleitet ist, wird sich zeigen.

WeisseMagie2 250 LeaDietrich" Weiße Magie" © Lea DietrichTatsächlich repräsentieren ja Stücke wie „Weiße Magie“ die prototypische Textarbeit in der freien Szene, die in den letzten zehn Jahren auch die Kinder- und Jugendtheater erreicht hat. Prägende Häuser wie das Berliner Theater an der Parkaue haben programmatisch Künstler der Off-Szene bei sich eingebunden, die abseits des literarischen Kanons, mit situativen, freien Stückentwicklungen ihr Publikum ansprechen. Nicht selten werden solche Stückentwicklungen nicht nur für, sondern auch mit Jugendlichen erarbeitet (man denke etwa an Constanza Macras‘ Tanzstück "Hell on Earth", an Arbeiten von Samir Akika und Ingo Toben oder an die vielen Theater-und-Schul-Projekte wie "Publikumsbeschwörung" von Turbo Pascal am Berliner HAU).

Es handelt sich dabei oft um eine sehr rohe Form von Gebrauchsliteratur. Viele Texte, die in diesen Arbeitszusammenhängen entstehen, gehen ihre Themen flächig an; sie reihen Beobachtungssätze in alltagsnaher Prosa. Die Darstellung wird kataloghaft. In der Regel kann man den Bleistift zum Unterstreichen sinnfälliger, elegant formulierter Wendungen stecken lassen. Die Worte beziehen ihre Expressivität und ästhetische Kraft hier eher aus der physischen Artikulation, aus dem Bild- und Sounddesign der Inszenierungen. Anders gesagt: Viele performative Texte sind betont ephemer; sie spielen ihre Rolle (manchmal auch nur Nebenrolle) als ein Instrument im Konzert der theatralen Mittel einer Inszenierung; nicht als Partituren und literarische Kunstwerke nach eigenen Gesetzen. Konzeptionell durchaus folgerichtig werden sie denn in der Regel auch nicht als Lesetexte zur Verfügung gestellt.

"Weiße Magie": Lebenspraxis verstehen

So verhält es sich über weite Strecken auch mit "Weiße Magie", für dessen Stücktext Monika Gintersdorfer verantwortlich zeichnet. Es gibt prägnante Erzählungen in dem Abend, den Einstieg etwa, der vom "Fest der Generationen" in einem Dorf in der Elfenbeinküste berichtet, bei dem die Dorfjugend von Hexern ins Erwachsensein geleitet wird. Und am Schluss diverser mystischer Rituale dürfen die Jugendlichen Auto fahren. Wie bitte: Auto? Schlagartig sind wir in den Adoleszenz-Szenarien Mitteleuropas. Das sind Verdichtungen, die Gintersdorfer in ihren besten Arbeiten immer wieder gelingen, verblüffende Engführungen zwischen afrikanischer und europäischer Lebenspraxis.

Danach gibt es textlich dünnere Kost, Informatives über Elektronik in modernen PKWs und über technologische Entwicklungen im Allgemeinen. Gintersdorfer extemporiert indirekt entlang der alten Marx’schen Waren-Fetischismusthese, nach der eine verschleierte kapitalistische Produktionsweise mindestens ebenso viele "Mucken" und ebenso viel Hokuspokus hervorbringt wie der voraufklärerische magische Glaube. Ein unverstandenes i-Pod ist "weiße Magie".

Während die Texte leicht thesenhaft rauschen, verschmelzen die Spieler im leeren Bühnenraum tänzerisch rituell anmutende Bewegungen mit hingehauchten Pantomimen. Ihre angedeutete Autofahrt im Verbund mit dem hexerartigen Stampfen glänzt allemal mehr als der begleitende Sachtext über ESP und ABS. Hier, im körperlichen Ausdruck, bezaubert diese Inszenierung, die auch zum großen Szene-Theatertreffen "Augenblick mal 2013" nach Berlin eingeladen ist.

"Über Jungs": Die mit der extraharten Schale

In der Dramatiker-Ecke bei den diesjährigen Heidelberger Jugendstücken begegnen einem vertraute Namen: Die Mecklenburgerin Juliane Kann (Jahrgang 1982) gehört zu den gut beschäftigten jüngeren Bühnenautoren; der gebürtige Kölner David Gieselmann (Jahrgang 1972) ist spätestens seit "Herr Kolpert" (2000) eine etablierte Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik. Mit seinem Auftragswerk „Über Jungs“ ist erstmals eines der führenden Häuser des Kinder- und Jugendtheaters bei den Heidelberger Jugendstücken zu Gast: das Berliner Grips Theater.

UberJungs 180 davidbaltzerbildbuehne.de"Über Jungs"
© David Baltzer / bildbuehne.de
Zu einem "AAT: Anti-Agressionstraining" ist in "Über Jungs" eine Gruppe junger Männer geladen, die einiges auf dem Kerbholz haben: Da gibt es Rocker und DSDS-Teilnehmer Victor, der einen „Typen“ in der U-Bahn vermöbelt hat, und den etwas schnöseligen Leander, der einen „Penner“ vor die U-Bahn schubste. Konstantin hat ein Mädchen auf einer Party unter Drogen gesetzt, um es zu vergewaltigen, und Sven hat aus Underdog-Wut heraus einen Asia-Imbiss angezündet. Da erscheint es natürlich als Gipfel der Beleidigung, dass das AAT ausgerechnet als Kochkurs abgehalten wird, unter Anleitung der resoluten Sterneköchin Frau Duvaldier. "Kochen ist doch unfassbar schwul", macht Sven gleichmal seine Haltung zur Veranstaltung klar.

In mühelos schnurrenden Dialogen lässt der begnadete Komödienschreiber Gieselmann diese Ansammlung an Posern und Mackern aufeinanderprallen. Ein jeder beleuchtet unwillkürlich die Kränkungen und Verwirrungen seiner eigenen Biographie, um dann sogleich mit kessen Sprüchen den allzu weichen Kern mit einer extraharten Schale zu ummanteln. "Der war Bohlenzweiter", heißt es über den DSDS-Kandidaten Victor, sobald dieser ein wenig offene Flanke zeigt. Und Victor: "Die haben mich suspendiert, einfach rausgeschmissen, diese Scheißer, weil sie Schiss hatten vor mir, weil diese ganzen Bohlenfreaks die letzten Schisser sind."

Zukunftsbefragungen

Das Stück ist in seinen schrulligen Charakteransichten Schauspielerfressen pur. Man kann es sicher noch realistischer anlegen als Jungregisseurin Mina Salehpour (die auch Regisseurin des letztjährigen Heidelberger Jugendstücke-Siegers Fatima war). Mit Film- und Popkulturzitaten und aufheiternden Choreographien sucht sie ihr Heil eher im Artifiziellen. Es scheint, als wurde damit auch gegen eine gewisse Statik in der Dramaturgie des Stückes angearbeitet.

Denn so gern man diesen Prügelknaben bei ihren verbalen Hieben zuschaut, so stark empfindet man doch auch, wie wenig sich die Handlung letztlich von der Stelle bewegt. Kein Wunder, dass das Team bis zur Premiere mit dem Schluss des Stückes kämpfte (es hätte praktisch endlos weitergehen können). In der bei Rowohlt veröffentlichten Fassung ist das Ende von "Über Jungs" fast schon idealtypisch offen gehalten, mit einer langen Kanonade aus Selbstbefragungen: „Was sind wir denn schon. / Oder wer? / Vielleicht Memmen / Vielleicht Superstars / Vielleicht Köchinnen / Vielleicht Mörderinnen / Vielleicht Vollpfosten“ usw. So schleicht man sich aus einem ratlos machenden Zustand heraus.

"No und ich": Weit vom Roman entfernen

Romanbearbeitungen haben auf der Gegenwartsbühne Konjunktur. Doch allzu oft sieht man im Ergebnis Schauspieler, die kiloweise Erzähltext an die Rampe schaufeln müssen, anstatt ins gemeinsame Spiel zu starten. Das ist in Juliane Kanns freier Adaption von "No und ich" von Delphine de Vigan anders. Kann löst de Vigans Erzählwerk komplett in einen dialogischen Dramentext auf, der Situationen schafft, Konflikte zuspitzt, und sich im Ganzen überaus weit von der Vorlage entfernt.

NoundIch2 250 Karl-BerndKarwasz"No und Ich" © Karl-Bernd KarwaszDe Vigans Roman ist aus der Perspektive der dreizehnjährigen Lou Bertignac erzählt, die aufgrund ihres außergewöhnlich hohen Intelligenzquotienten von 160 schon zwei Schulklassen übersprungen hat. Jetzt sitzt sie inmitten all der attraktiven Pubertierenden und himmelt den lässigen Lucas (17 Jahre) an, der seinerseits schon zwei Mal sitzen geblieben ist. Als seien das nicht schon genug Probleme, steht der schüchternen Lou demnächst ein Referat bevor, in dem sie über obdachlose Frauen sprechen möchte.

Während ihrer Recherchen für dieses Referat lernt Lou die im Titel avisierte No alias Nolwenn kennen, eine Achtzehnjährige, die auf der Straße lebt. Die beiden freunden sich an (was bei der drogensüchtigen, familiär geschädigten No an Freundschaft möglich ist…). No kommt eine Zeitlang in Lous Familie unter. Aber für ein glattes Happy End sind die psychischen Verhältnisse zu instabil. Im toten Winkel ihrer Eltern, die aufgrund eigener Traumata kaum Ohren für ihre Kinder haben, ringen die Jugendlichen um ein Quäntchen sozialen Restoptimismus.

Projektionsflächen

Das alles entwickelt seinen Reiz aus der angespannten inneren Perspektive der Erzählerin heraus, die ebenso alterstypisch verklemmt wie frühreif analytisch und literarisch sensibilisiert ist. Diese Besonderheit und auch die Selbstverständlichkeit der Anlage gehen bei der Veräußerlichung für die Bühne verloren. Eine etwas kuriose Erörterung nach Schulaufsatzformat zur Frage, weshalb man No zuhause aufnehmen sollte, wirkt im Roman als innere Reflexion der Ich-Heldin denn doch schlüssiger als auf der Bühne, wo die Passage als Zwiegespräch mit Abfragecharakter zwischen Lou und Luca daher kommt.

Lucas heißt in der Bühnenfassung übrigens tatsächlich Luca, wohl auch weil die Figur von der reinen Projektionsfläche Lous zum echten Handlungsträger aufgewertet ist. Mit No steht es ähnlich. Juliane Kann bringt die drei auf Augenhöhe und in eine gemeinsame Opposition gegen die Elterngeneration (die abwesend bleibt). Sie stärkt dadurch das Gruppengefühl und das jugendtypisch Rebellische. Verloren gehen allerdings Differenzierungen im familiären Kontext. Und die um Zugriff auf ihr Leben ringende Protagonistin Lou wird normalisiert. Ein bisschen schade. Schöner ist es ja doch, wenn eine Fantasie auf der Bühne explodiert.

 

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