Was sich nicht aus der Welt schaffen lässt

von Theresia Walser

April 2013. In den letzten Jahren krachte es immer wieder mal zwischen denen, die sich über den Umgang mit neuen Texten auf der Bühne beklagen, und denen, die angewidert von derartigem Autoren- und Kritikergejammer die Diskussion über solche Fragen gleich ganz abschaffen wollen. Dass darüber keine Einstimmigkeit herrschen kann, ist nicht nur selbstverständlich, sondern auch erleichternd, zumal ein Theaterbetrieb ja etwas anderes ist als ein Kleintierzüchterverein, in dem nur bestimmte Richtlinien gelten dürfen. Die Frage nach der Textbehandlung auf der Bühne ist schließlich nicht neu, und solange es Theater gibt, wird es diese Frage auch weiterhin geben. Immerhin besitzen wir momentan ja ein sehr uraufführungsfreudiges Theater. Ein Theater, das inzwischen verschiedenste Spielarten kennt, von der reinen Textfläche übers Konversationsstück bis hin zum performativen Projekt, bei dem der Text erst während der Arbeit entsteht etc etc etc.

Jeder Text fordert eine andere Regiehandhabung heraus. Und nur darum kann es letztlich gehen. Das muss auch streitbar bleiben dürfen, und zwar jedes Mal von neuem! Mit streitbar meine ich nicht, dass der Autor nach der Uraufführung seines Stücks heulend im Hotelzimmer herumtobt und schreit: Was für einen Scheiß hat man da wieder über sich ergehen lassen müssen!

Der Text und sein Eigenleben

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich selbst einmal vor Jahren nach einer grauenhaften Uraufführung in einem derartigen Zustand nicht im Hotelzimmer, sondern schimpfend auf einem Podium saß, während Kollegen mir zuflüsterten: "Hör auf, was Du hier machst, ist Selbstmord!" Auch das ist nicht empfehlenswert. Allerdings wäre es auch bedauernswert, wenn es inzwischen bei Theaterautoren eine Art stillschweigendes Credo gäbe, das lautet: Besser sagt man da nichts mehr! Nur gestalten sich eben die Dinge oft nicht so einfach, wie man sie gerne hätte. Schließlich bleibt es auf der Bühne immer ein Stück weit ein Geheimnis, warum etwas zu leben beginnt und warum nicht. Das hat zuerst einmal gar nichts mit verschiedenen Regiestilen zu tun. Es kann ein berserkerhaft überdrehter Regietheaterabend eine tolle Kraft entfalten, während ein Abend, der sich scheinbar ganz dem Text hingibt, gnadenlos absaufen kann. Es gibt dafür kein Rezept. Es gibt keine Garantie. Es gibt zuallererst einmal gar nichts, außer das Risiko.

Jeder Autor, der einmal auf Proben seines Stückes mit dabei saß, weiß, wie heikel, wie unberechenbar, wie überraschend sich Texte plötzlich an der Luft verhalten können. Auf der Bühne beginnt der Text sein Eigenleben. Aber vor allem erfährt er, je länger er die Proben begleitet, wie viel Anstrengung, wie viel Mühsal es braucht, dass Sätze auf der Bühne zu pulsieren, zu klingen anfangen, ja, dass überhaupt etwas lebt. Wenn dann aber ein Text auf der Bühne einmal abhebt, wenn er zu flirren beginnt, gehört es zum Schönsten, was sich ein Autor wünschen kann.

Ich erinnere mich an eine Uraufführung, mit der ich bereits bei der Premiere äußerst glücklich war. Als ich die gleiche Aufführung später jedoch bei der Dernière nochmals sah, war ich im schönsten Sinne baff darüber, in welche rhythmischen Steigerungen die Schauspieler den Abend inzwischen getrieben hatten. Frei und dabei ungeheuer präzise zugleich! Es war im besten Sinne Jazz! Es ist völlig normal, dass bei einer Aufführung der eine oder andere Satz im Eifer des Gefechts untergeht, was auch nicht weiter schlimm ist.In dieser Dernière aber haben die Schauspieler jedes Stammeln, jeden noch so kleinen Halbsatz leuchten lassen, wie ich es noch nie gehört hatte. Dass Schauspieler mit einer Aufführung derart über sich hinauswachsen können, ist auch das Werk der Regie.

Die Frage nach der Textur des Textes

Weder hilft es also etwas, sich wehleidig und beleidigt um Feindbilder zu bemühen, die es bei genauerem Hinsehen so eindeutig gar nicht gibt, noch führt es zu etwas, mit lässiger Polemik die Frage nach der Textbehandlung per Regie-Richtspruch für längst obsolet zu erklären. Im Übrigen lassen sich Fragen, die sich aus der Sache selbst ergeben, auch nicht willkürlich aus der Welt schaffen. Das wäre in etwa so, als würde ein Dirigent sagen: Was ich mit einer Partitur anstelle, ist allein meine Sache. Das kann er zwar machen, doch es stellen sich dabei nach wie vor Fragen, die nicht bloß etwas mit ihm zu tun haben.

Dass der Begriff Werktreue den meisten bloß noch auf die Nerven geht, ist zwar verständlich, zumal er sich aus den Worten Werk und Treue zusammensetzt, die etwas Einschüchterndes, Starres und Altbackenes ausstrahlen und offenbar nach Unterwerfung rufen. Sie klingen, als würden sie ein Buckeln der Regie vor dem Autorgenie einklagen, wie es angeblich in früheren Zeiten der Fall war. Und deshalb kann, wer diesen Begriff noch in den Mund zu nehmen wagt, nur Häme ernten und als vor-vorgestrig gelten. Allerdings hat dieser Begriff, so wie er einmal gemeint war, nichts mit historischem Kostümplunder, pathetischem Verse-Dahersagen und altbackener Kulissenschieberei zu tun. Ebenso wenig hat er etwas mit einer diffusen psychologischen Einfühlung in den Text zu schaffen. Denn genau genommen erweist er sich vor allem darin, dass ein Stück zuerst einmal wie eine Partitur gelesen wird. Man muss dafür nicht diesen muffig riechenden Begriff verwenden, und dennoch kommt man kaum darum herum, sich weiterhin der Frage nach der Textur eines Textes zu stellen. Man muss sich deshalb nicht gleich vor dem Text verneigen, aber wenigstens verstehen wollen, wie er gebaut ist, wo die Motivverkettungen liegen, wie seine Sprache funktioniert, wie sie klingt und welche Atmosphäre sie ausstrahlt. Das gilt vor allem für Stücke, die sich nicht auf einen solide gebauten Plot stützen, wie man es vom Well-made-Play kennt, sondern deren Figuren in der Musikalität ihrer Sprache an Schärfe gewinnen, bei denen Form und Inhalt nicht voneinander zu trennen sind und die Eigenheit der Sprache selbst den Inhalt bestimmt.

Der alte Hut der Autorintention

Und um ein allerletztes Missverständnis, das sich hartnäckig hält, auszuräumen, muss man nochmals betonen: Es geht dabei nicht im Geringsten um irgendeine Autorintention, sondern allein um das Textgeflecht! Selbst von klügsten Theaterleuten, mit denen man über diese Frage diskutiert, wird einem meist sofort dieser älteste aller alten Hüte aufgesetzt: die Intention des Autors!

Immerhin gibt es inzwischen wieder immer mehr Regisseurinnen und Regisseure, die ein Stück zuerst einmal auf seinen dramaturgischen Rhythmus und seinen sprachlichen Sound hin untersuchen, bevor sie an ihre eigenen Phantasien denken. Regisseure, die – vergleichbar Musikern – genau wissen, wie man sich der Struktur eines Werks nähert, ohne es gleich aufbrechen, mit fremden Elementen anreichern und auf eine tagespolitische Relevanz hin abklopfen zu müssen.

Natürlich kann das nur ein erster Schritt sein, aber er sollte immerhin getan werden. Und dann ist tatsächlich die Regie dran, die bestenfalls Dinge zustande bringen kann, von denen sich nur träumen lässt.

 

Die in Friedrichshafen am Bodensee geborene Dramatikerin Theresia Walser wurde vom Fachblatt "Theater heute" 1998 zur "Nachwuchsautorin des Jahres" und im darauffolgenden Jahr zur "Autorin des Jahres" gekürt. Mehrfach wurden ihre Stücke ins Rennen um den renommierten Mülheimer Dramatikerpreis geschickt. Zuletzt wurde ihr Stück "Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel" im Januar 2013 am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt.

 

Kommentare   

+2 #4 vielleicht geht es auch um unser Textverständnis..Melchior 2013-05-04 09:55
...darum, dass ein Text eben keinen "Kern", keine "innere Wahrheit" oder "Intention" hat, sondern eben zunächst einfach Text ist. Ein Regisseur muss nicht nach dem "dahinter" oder der "Autorintention" fragen, wenn er den Text ernst nimmt, seinem Rhythmus, logischen Aufbau, seiner Sprache und seiner formalen Gestaltung folgt, bzw auf sie achtet. Dazu ist eine genaue Analyse des Textes hilfreich. Mit welchen handwerklichen Mitteln der Regisseur dann seine Inszenierung baut und ob er den Text dekonstruiert, oder was auch immer........wenn der Text als solcher ernstgenommen wird, wird ein Theaterabend ihm voll auch gerecht. So verstehe ich Walser.
+5 #3 ein Beitrag zur Kehlmann-Debatte?Heinrich Gast-Köselitz 2013-04-14 16:36
Wenn ich es recht verstehe, greift Theresia Walser mit diesem Text in die sogenannte Kehlmann-Debatte ein. Bei Kehlmann fand sich eine recht pauschale Verurteilung des Regietheaters und ein recht seltsam antiquierter Theaterbegriff. Nicolas Stemann hat kürzlich auf Kehlmann und Turrini, der in die gleiche Kerbe schlug, geantwortet und sinngemäß etwas gesagt wie: "Man darf eh alles." Dazwischen, so verstehe ich den Text, positioniert sich Walser, indem sie ein bisschen differenzierter und unangestrengter an die Dinge herangeht als Kehlmann oder Turrini, ohne der Beliebigkeitsvermutung von Stemann zu folgen.

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+5 #2 innere WahrheitHortense 2013-04-13 20:13
Theatertexte tragen eine innere Wahrheit in sich, und zwar jenseits des Begriffs der Werktreue. Also etwas, was sich durchaus zu befolgen lohnt - so verstehe ich Walsers These. Allerdings würde ich widersprechen, dass es dabei nur ums Textgeflecht geht. Ich denke, dass ein Aufschütteln eines Textes, gar völliges Missachten des Geflechts durch die Regie, auch seinen inneren Kern freilegen kann.
-1 #1 Ich weiß nichtJohn Player 2013-04-11 09:58
Ich verstehe den Sinn dieses Textes nicht. Worum geht es hier? "Einstimmigkeit kann nie werden, jeder Text fordert etwas anderes, Theater braucht viel Mühsal". Das stimmt alles, aber womit setzt sich dieser Text jetzt auseinander, was will der mir sagen? Es geht nicht um Polemik, das ist mir klar, aber. Ich habe gelesen und frage jetzt nicht aus einer Streitlust heraus sondern bleibe achselzuckend und etwas hilflos zurück.

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