Warum nicht in Zitaten leben?

von Georg Kasch

Da traut sich jemand was! Wer wagt es denn heute noch, für die Bühne eine Liebesgeschichte zu schreiben, wo es zwischen den Zeilen hemmungslos vibriert, wo einmal mehr die großen Gesten und Formeln erprobt werden und einem die Glückshormone bereits beim Lesen entgegenkriechen? Spider und Wolljacke warten aufs Ende wie Wladimir und Estragon auf Godot, nutzen die Zeit aber besser. Sie beteuern sich ihre Liebe, erzählen einander von ihrer Vergangenheit, schlafen miteinander, kurz: "Das Glück ist perfekt, nur die Welt ist es nicht." Die steht nämlich vor dem Untergang, das Wasser steigt, und das paradiesische Eiland, auf dem sie sitzen, wird es nicht mehr lange geben.

Aber plötzlich ist Valerie Melichars "Sonnenkinder. Sternenstaub. Letzte Televisionen." zu Ende und Spider wieder allein. Der Nebel, der von Anfang an durch das Stück – und damit über die Bühne – wabert, hat alles um ihn verschluckt, und während sich die übrigen Figuren des Stücks um ihn versammeln, ohne dass er sie wahrnimmt, philosophiert Spider über den weißen Dunst. "Der Nebel nivelliert und relativiert alles, aber erst dadurch wurde diese Liebe möglich", sagt Melichar. "Sie ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt."

"Dieses Lied, wer singt denn das?"

So bleibt auch dieses große Gefühl nur ein romantisches Zitat – wie eigentlich alles an diesem Stück, das wie eine Collage wirkt. Die drei Akte sind mit Zitaten von Tolstoi, Jules Verne und Sokrates überschrieben, die Sprache der Figuren setzt immer wieder zu Floskeln an und selbst die paradiesische Insel gibt's nicht ohne bunt zusammengewürfelte Zivilisationsabsonderungen: "Überall Ramsch, Gerümpel, Trödelkram, Geraffel", heißt es in der Regieanweisung.

Alles, wirklich alles hat es schon mal gegeben. Das weiß auch Spider, der Held: "Man muss es nur Googlen: jeder Gedanke, jede Ausrede, jede Anekdote, jedes Inneneinrichtungsaccessoire – alles schon da. Warum also nicht in Zitaten leben. Warum nicht sagen 'I'll be back', zum Abschied, oder 'It ain't me babe, no, no, no'. Ich finde das nicht schlimm." Und so besteht denn sein vorapokalyptisches Leben auch aus Pop-Zitaten, "von den Joy Division Topflappen bis hin zur ewigen Kleinschreibung, Campbell’s Tomato Soup, morgens singe ich immer 'How do you like your eggs in the morning?', so lässt es sich leben. Dieses Lied, wer singt denn das?" Wissen muss er nicht, dass es Dean Martin und Helen O'Connell waren – kann man im Zeitalter der unendlichen Datenverfügbarkeit auch später noch recherchieren, oder? Dann allerdings würde man erfahren, dass hier bereits die erste Fährte zur romantischen Liebe gelegt ist.

Lyrik als Training

Überhaupt die Songs, die Melichar genau benennt, als wären es Szenenanweisungen bei Ibsen, gipfelnd in einem YouTube-Link auf den "Llama Llama Duck Song", ein aus Versatzstücken zusammengesetzter Nonsense-Hit. Alles nur geklaut? "Für einen jungen schreibenden Menschen ist es unmöglich, etwas Originelles, nie Dagewesenes zu schaffen", sagt Melichar. "Jeder Gedanke, der für mich neu ist, lässt sich bestimmt irgendwo finden, wenn ich nur lang genug google."

"Sonnenkinder. Sternenstaub. Letzte Televisionen." ist Melichars erstes Stück. Geschrieben hat die 30-Jährige schon immer. Mit 23 ging sie für fünf Jahre nach Großbritannien und studierte dort kreatives Schreiben. Dort entstand hauptsächlich Lyrik. "Lyrik ist ein gutes Training, weil man derart präzise arbeitet, dass man auf jede Silbe achten muss", sagt Melichar. Seit zwei Jahren lebt sie wieder in Wien und schreibt nun vor allem auf Deutsch, zunehmend Prosa.

Apokalyptisches Wunderland

Mit einem Prosaprolog beginnt auch ihr Stück: Da erzählt jemand – die Autorin? Spider? – von einem reichen Mann irgendwo in Ohio, der die Türen seines Privatzoos öffnet. Nachdem er gestorben ist, fressen ihn die Tiere. Die Natur erobert sich ihren Platz zurück – und vom Menschen bleibt bestenfalls "ein kleines Häufchen mieser Knochen". Was allerdings auch nicht das letzte Wort gewesen sein muss, schließlich geht die Welt immer wieder einmal unter, wie Jesus erzählt, der irgendwann in einer zuverlässig witzigen Episode auftaucht (so wie überhaupt das beständige Jonglieren mit dem Weltuntergang durchaus komisch ist).

Aber auch hier wischt der Nebel alles beiseite, relativiert jede Pointe. Und weiter geht's durchs apokalyptische Wunderland. Neben Jesus treten auf: eine Peruanerin, die von den Anden erzählt, Lady Limousine, die als Mischung aus Diva und Dragqueen selbst ein laufendes Klischee-Ersatzteillager ist, Tracy56, die nur als Stimme existierende Begleiterin auf den NightShips Sintflut Cruises (Kategorie Weltuntergangs-Tourismus), und zwei bis drei Engel, die Spider schließlich den Weg zu Wolljacke weisen.

Wie klein wir Menschen sind

Wolljacke war er zu Beginn schon begegnet, der da noch als Reporter unterwegs ist und Fragen stellt wie: Was ist Glück? In ihrer Beantwortung erweist sich Spider als eher durchschnittlicher Charakter. Und erhält von Wolljacke erst seinen Namen, seiner Angst vor Spinnen wegen. Ist ja klar, dass er sich in diesen Mann, dessen Geschöpf er ist, verlieben muss. Mit der bittersüßen Pointe, dass Wolljacke sich zwar als geschlechtliches Wunder erweist, als Zwitterwesen, das ein zukunftsweisendes Kind gebären könnte. Aber der Nebel wischt auch diese Möglichkeit eines Weiterlebens weg.

"Das Stück ist voller Themen, die mir am Herzen liegen", sagt Melichar. "Der Weltuntergang ist die geeignete Metapher, weil sie zeigt, dass wir so viele Dinge todernst nehmen, die bedeutungslos werden, wenn man bedenkt, dass wir sterblich sind." So weht bei aller Komik, allem Pathos und aller Lakonie eine existenzielle Wehmut durch das Stück, eine Art Staunen darüber, wie klein wir Menschen sind, wie schlicht – und wie verzweifelt wir uns dennoch ans Leben klammern, selbst dann, wenn die Grenzen von Realität und Fiktion längst im Nebel verschwimmen. "Wenn der liebe Gott nicht weiter weiß, so hilft er sich mit Trockeneis …" heißt es einmal, und so spielt die Nebelmetapher des Stücks immer auch auf der szenischen Ebene. Man sieht, auch wenn sie kaum beschrieben wird, die Bühne beim Lesen geradezu vor sich, die abgewrackten Kulissenteile, die verschlissenen Prospekte und die blauen Planen, die das Wasser andeuten sollen. Echt ist hier nichts – und doch so real, wie nur das Theater sein kann, wenn es versucht, Welt zu sein.

 Lesung von "Sonnenkinder. Sternenstaub. Letzte Televisionen" am dritten Autorentag, 5. Mai, um 15 Uhr im Alten Saal.

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