Jede Menge Hilferufe

von Wolfgang Behrens

Ein ganz eigener Ort ist das, der Stadtpark. Ein Ort des Dazwischen, irgendwo mittendrin und doch am Rand. Hier spült es diejenigen an, die für kurze Zeit aus dem Getriebe der Stadt herausfallen: Einsame können das sein, Verliebte oder Alte. Einfache Spaziergänger und Jogger, Junkies und Entenfütterer, Lichtscheue, Melancholiker oder nächtliches Partyvolk. Sie alle suchen der Stadt zu entfliehen und bleiben doch immer in ihrem Dunstkreis. Nicht in die Natur gelangen sie, im Park herrscht immer nur ein naturidentisches Aroma, er ist nur die künstliche Verlängerung der Stadt.

Vor 30 Jahren hat Botho Strauß seine Überschreibung des "Sommernachtstraums" im Park angesiedelt (nach dem sein Stück dann auch hieß). Dass der Wald Shakespeares der städtischen Anlage gewichen war, in welcher der Unrat in den Holunderzweigen hing – "Papier, Bierdosen, Strumpfhose, Schuh, das flatternde Band einer zerstörten Recorderkassette" – hatte etwas Paradigmatisches: In Strauß' "Park" tummelten sich moderne Menschen, denen "Bewußtsein und Geschäfte ihren Trieb verdorben" hatten – dem mythischen Wald waren sie nicht mehr gewachsen.

Weit weg von der Natur

Auch Lorenz Langenegger lässt sein neues Stück "Wo wir sind" im Stadtpark spielen. Mit dem "Park" von Botho Strauß mag es nicht allzu viel gemein haben, doch auch hier ist der Unrat der Stadt allzeit präsent – akustischer Unrat nämlich: "Die üblichen Geräusche. Sirenen dann und wann. Das Rauschen der Autobahn." Und auch hier sind die Figuren ähnlich weit weg von der Natur und auf ähnliche Weise aus einem übergeordneten, gewissermaßen transzendenten Sinn gefallen. Langenegger selbst sagt, es gehe in seinem Stück "nicht um Natur, sondern um ihr Gegenteil." Und er versuche mit seinen Figuren "von einer Welt zu erzählen, in der wir alle leben, in der wir uns zurecht finden möchten, deren Ordnung wir nicht durchschauen und auf der wir etwas tun möchten, das uns sinnvoll erscheint und das im besten Fall auch noch gut ist."

Sechs Personen sind es, die bei Langenegger durch den nächtlichen Stadtpark irrlichtern, und auf irgendeine Weise glauben sie alle, hier ein Refugium zu finden, etwas, an das sie sich halten können, und sei es nur eine andere Person. Doch die diffuse Bedrohung der Stadt und der Alltagswelt steckt ihnen in den Knochen, und davor gibt es kein Entkommen. In den mehr oder weniger zufälligen Begegnungen dieser Sechs stecken jede Menge Hilferufe – offene und versteckte –, doch jeder ist wiederum zu sehr in "Bewußtsein und Geschäfte" (um es mit Strauß zu sagen) verstrickt, um dem anderen tatsächlich beizuspringen. Kunstvoll lässt Langenegger seine Protagonisten so immer wieder aneinander vorbeireden, oft monologisieren die Figuren noch, wenn ihnen längst eine andere gegenübersteht, deren Einwürfe sie gar nicht zur Kenntnis nehmen.

Links zwei drei, rechts fünf sechs

Das Netz der Beziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten unter den Figuren hat Langenegger fein gesponnen. Da ist Lena, die sich einer im Park campierenden, seltsam ungerichteten Protestbewegung anschließen möchte. Ihr Freund Bastian hat Angst, sie zu verlieren, zumal sie Anrufe von Amir erhält, der vor der Abschiebung steht, falls er nicht bald heiratet. Amir trifft sich zu unklaren Geschäften mit Markus am Teich, Markus wiederum ist ein fanatisch nach Sicherheiten suchender Charakter, der an Statistiken glaubt und Zeitungsausschnitte sortiert. Nach ihm, der sich so sehr einen geschützten Raum herbeisehnt, fahndet seine Frau Sabine, um ihm mitzuteilen, dass ihr gemeinsamer Sohn als Opfer einer rätselhaften Epidemie auf der Intensivstation liegt. Und zwischen allen taucht immer wieder die alte Anna auf, die auf den ersten Blick Hilfloseste, die nicht einmal den Weg nach Hause zu kennen scheint, zugleich jedoch die Hilfsbereiteste, die Amir im Austausch gegen kleine Pflegedienste ein Obdach bietet und ihm zuletzt gar die Heirat vorschlägt.

Die Konstellationen wechseln in schwebendem Rhythmus, jeder kann auf jeden treffen, und jeder sucht momentweise nach einer Nähe, die nur allzu schnell wieder verfliegt. Langenegger gelingt es, das Ganze in eine wunderliche Atmosphäre poetischer Vagheit zu tauchen. Vieles verharrt bei der Lektüre im Uneindeutigen: Was ist es, das Amir Markus am Teich übergibt? Übergibt er überhaupt etwas? Und wer schlägt Markus gegen Ende des Stücks nieder? Was ist das, was Anna vor sich her sagt: "Links zwei drei, rechts fünf sechs, hop, links cha, rechts cha und außen rum." Tanzt sie, oder spielt sie "Himmel und Hölle"? Häufig steht in Langeneggers Stück nach dem Figurennamen kein Text, sondern nur eine Leerstelle. Welche Gesten verbergen sich hier?

Man könnte befürchten, dass eine Aufführung des Stücks diesem Prinzip der Vagheit ein Zuviel an Klarheiten entgegensetzt. Langenegger sieht diese Gefahr nicht: "Wenn ich fürs Theater schreibe, möchte ich dem Theater auch die Freiheit (und die Aufgabe) geben, Entscheidungen zu treffen, Setzungen zu machen und die Geschichte auf die Art und Weise zu erzählen, die es für die richtige hält. Auch glaube ich nicht, dass Konkretion unbedingt ein Verlust sein muss." Doch ganz möchte er das Vage denn doch nicht missen: "Ich glaube, dass das Theater mit all seinen Mitteln nicht nur die Möglichkeit hat, konkrete Entscheidungen zu treffen, sondern auch, sie wieder zu verwischen." Und hat auch gleich ein Regieangebot parat: "Könnte das Stück nicht auch von zwanzig alten Tänzerinnern und Tänzern gespielt werden?" Sie tanzt also doch, die alte Anna …

 

Lesung von "Wo wir sind" am zweiten Autorentag, Samstag 4. Mai, um 16 Uhr im Alten Saal.

Kommentar schreiben