Die Zauberin Zeit

von Sophie Diesselhorst

„Was Androgynes müsste her, etwas Unbestimmtes, etwas Ungeklärtes, Unbestätigtes, etwas nicht Definiertes müsste her, etwas nicht klar zu definierendes, also noch mal, noch mal von vorn“ heißt es kurz vor der Mitte von Henriette Dushes „lupus in fabula“. Das sagt: „Die Mittlere“. Sie ist eine von drei Schwestern, da wären außerdem noch „Die Älteste“ und „Die Jüngste“. Die Mittlere ist nicht nur Mittlere, sondern auch Mittlerin. Sie beginnt das Stück, indem sie eine „Bühne“, also eine Situation für sich und die beiden anderen entwirft. Und sie wird diese Bühne das gesamte Stück hindurch immer wieder neu entwerfen. So wie es sich Werschinin, der Geliebte von Mascha, der mittleren der Tschechowschen Drei Schwestern, einmal erträumt: „Ich denke oft: Wie, wenn man das Leben von neuem anfangen könnte, dabei mit Bewußtsein? (...)  Dann würde sich jeder von uns, denk ich, bemühen, vor allem sich nicht zu wiederholen, würde sich wenigstens eine andere Umgebung schaffen.“

Die erste Umgebung, in die die Mittlere sich und ihre Mitspielerinnen versetzt: „Eine wilde, vollkommen verwahrloste Wiese im Herbst“. Die erste Gestalt, in der sie sich und die beiden anderen daherkommen lässt: „Drei Bären, groß und schwer.“ Im Folgenden werden noch drei alte Frauen im Dirndl, drei alte holzhackende Männer, Tick, Trick und Track, drei junge Frauen im Brautkleid, drei kleine Jungen im Brautkleid und am Ende drei Wölfe herbei zitiert. „Drei Figuren sind’s, nicht Frau, nicht Mann, weder Tier noch Mensch, schon lange nicht mehr jung, aber noch lange nicht alt“, artikuliert die Mittlere einmal ihr andauerndes Scheitern an der eigenen – und später auch an der schwesterlich-gemeinsamen – Vorstellungskraft.

Mit dem Baby am Sterbebett

Die wird ja auch übertroffen von der Situation, die Anlass für das Zusammentreffen der drei ist: Es ist das Sterben des Vaters. „Papa? Papa!“ wird der Vater immer mal wieder angerufen, aber reagieren kann er nicht mehr; auch was er noch wahrnimmt, ist ungewiss. Es ist der Chor der drei Schwestern, der den Vater derart zu beschwören sucht. Dieser Chor formiert sich an anderen Stellen auch, um in gemeinsamen Erinnerungen an den Vater zu schwelgen, zum Beispiel ans mühsame Stadt-Land-Fluss-Spielen: „Wir haben nur Name, Tier, Beruf spielen wollen, weil von dem anderen, von Stadt, Land, Fluss, da wusste er auch immer was mit xyz, und wir wussten nie auch nur irgendwas mit xyz, und wir konnten uns auch nicht seine xyz's merken, das eine Mal für das nächste Mal, das hat ihn immer verwundert, und vielleicht auch ein bisschen verärgert, dass unsere Gehirne in diesem Gebiet bis heute noch Sandsieben gleichen.“ Allein, jede Erinnerung reißt schnell ab; der Vater ist schon zu weit weg, um als Figur noch plastisch werden zu können. Nicht nur für den Leser, sondern vor allem für die Schwestern selbst.

Für die mittlere Mittlerin, die ihr Baby mitgebracht hat, das sie immer wieder neben den Vater legt, in der Hoffnung, das neue Leben könnte den Sterbenden wiederbeleben – vergebens. Für Die Älteste, die schon ein schwarzes Kleid gekauft hat für die Beerdigung des Vaters und die sich in ihrem inneren Monolog versucht darauf vorzubereiten, die Grabrede zu halten.
Für Die Jüngste, die darüber erschrickt, dass von ihrem Geliebten verlassen zu werden für sie „10-mal schlimmer als das hier“ war.

Drei mal Erinnerung

„lupus in fabula“ ist ein 58-seitiges Auseinander- und wieder Aufeinander-zu-Driften der drei Schwestern im Zeit(losigkeits)maß des bevorstehenden Vater-Todes. Dabei zeigen die Älteste und die Jüngste sich zunächst unbeeindruckt von den alternativen Realitäts-Entwürfen der Mittleren und folgen ihren jeweiligen Gedanken; irgendwann steckt die absurde Sinn-Erzeugungs-Bemühung der Schwester sie dann aber doch an, spielen sie mit und versetzen sich gemeinsam ans Meer; die Mittlere dichtet noch einen „sanften, feinen Regen“ dazu. Vier Seiten später bittet Die Jüngste: „Wäre es möglich, dass wir vielleicht ein bisschen weniger Regen?“ Wo der Sinn krümelt, ist er vom – zumal Gemeinsamkeit stiftenden – Wahnsinn irgendwann nicht mehr zu unterscheiden.

Den erdenden Gegenpol dazu bilden typische schwesterliche Spannungen, die sich in geübten Streitereien („Du bist dir wirklich in allem immer sehr sicher, was?“) entladen. Diese Szenen haben etwas tröstliches, weil sie sich auf eine frühere Gemeinsamkeit unter normalen Umständen beziehen. Dadurch und durch die Entscheidung, ihren drei Schwestern eine klare Umgangssprache in den Mund zu legen, nimmt Henriette Dushe dem Leser allerdings auch die Möglichkeit, sich der albtraumhaften Situation zu entfremden; der Impuls dazu ist oft stark, der Stillstand schier unaushaltbar.

Das nicht Aufzuhaltende

„Unser größter Feind ist die fortlaufende Zeit, und wir meinen damit sowohl ihre endliche als auch ihre unendliche Form“, heißt es in „In einem dichten Birkenwald, Nebel“, einem anderen Stück der 1975 in Halle geborenen Autorin. Könnte dieser Satz auch in „lupus in fabula“ fallen? Nein, denn die Reflektionsebene, von der aus er gesagt werden kann, vermögen die temporär gelähmten drei Schwestern nicht zu erklimmen – paralysiert von der unmittelbar bevorstehenden Erkenntnis, dass das Leben sich eben nicht, wie Maschas Werschinin es sich bei Tschechow ausmalt, von neuem anfangen lässt, „dabei mit Bewusstsein“. Aber natürlich würden sie ihn sprechen, wenn sie könnten.

Ob der Tod des Vaters Henriette Dushes drei Schwestern am Ende aus dem Vakuum erlöst, ist der Glaubenskraft des Lesers überlassen. „lupus in fabula“, diese lateinische Redewendung bedeutet im übertragenen Sinn: Wenn man vom Teufel spricht. Wörtlich: vom Wolf, lupus. Der in „lupus in fabula“ zum ersten Mal auftaucht in einer Erzählung der Jüngsten davon, wie sie den schon kranken, aber noch bei Bewusstsein sich befindenden Vater gefüttert hat mit Kartoffelbrei, und der Vater behauptet habe, „dass da die Wölfe dran waren am Kartoffelbrei.“ Erstes Anzeichen seines Verschwindens, dessen Vollendung vielleicht am Ende symbolisiert wird von den drei Wölfen, als die sich die drei Schwestern in einer letzten gemeinsamen Fantasie-Anstrengung ausmalen, bevor sie noch einmal „Papa? Papa!“ rufen und – vielleicht – zum letzten Mal keine Antwort erhalten.

 

Lesung von "lupus in fabula" am zweiten Autorentag, 4. Mai, 12.30 Uhr, im Alten Saal.

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