Der Mythos und die Sperlingsgasse

von Georg Kasch

Heidelberg, 30. April 2013. Griechenland ist die Wiege Europas. Einst raubte Zeus in Gestalt eines Stiers hier die Königstochter, die dem Kontinent seinen Namen gab. Diese Szene prangt im Zentrum eines antiken Mosaiks, das den Bühnenboden bedeckt. Darauf steht Prodromos Tsinikoris und flüstert auf Griechisch Verse aus Homers "Odyssee": Telemach beruft eine Versammlung ein, um die Staatskrise – die Freier seiner Mutter zehren die Landesvorräte auf – zu bewältigen.

Gegen Ende wird er wieder lesen, diesmal auf Deutsch: von der Metzelei, als der heimgekehrte Odysseus zusammen mit seinem Sohn die Freier abschlachtet. Natürlich ist die Wirtschaftskrise, die Griechenland gerade besonders hart im Griff hat, so einfach nicht zu lösen. Zusammen mit Anestis Azas videosymbol, dem Schwerpunkt-Scout des diesjährigen Stückemarktes, hat Tsinikoris bei "Telemachos – Should I Stay or Should I Go?" Regie geführt und das Stück gemeinsam mit den Performern am Berliner Ballhaus Naunynstraße entwickelt.telemachos 700 bkrieg Christos Moustakias von der Sperlingsgasse © Benjamin Krieg

Tsinikoris' Frage, ob er, der einst in Wuppertal geboren wurde und gerade in Griechenland lebt, dort bleiben oder besser nach Deutschland zurückkehren sollte, ist der rote Faden, an dem sich die Erzählungen der anderen Menschen mit griechischen Wurzeln orientieren: Christos Moustakias etwa erlebte seine besten Zeiten als Westberliner Szenegröße mit seinem Restaurant "Sperlingsgasse". Auch wenn er immer zwischen den Schicksalsextremen pendelte – letztlich brachte ihm Deutschland Glück. Sofia musste 1970 als Linke vor der Militärjunta fliehen – und wurde später Berliner Bezirksverordnete. Besonders berührend die Geschichte von Kostis Kallivretakis, dessen Vater die Familie mit seinen vielfachen Krediten in den Ruin trieb. Heute erkennt er: "Ein ganzes Land geht unter, und er war eines der ersten Opfer."

Gelebte Demokratie oder Kitsch?

Die Qualität von "Telemachos" liegt nicht in den szenischen Lösungen, die sich in Diashows, Videos und einer im Hintergrund köchelnden Suppe erschöpfen. Sondern darin, dass aus Tsinikoris' Passantenbefragungen in Berlin und Athen, den biografischen Geschichten (sollten sie nicht wahr sein, so sind sie gut erfunden) und einem herrlichen Monolog des Quotendeutschen Knut Bergers über die "Dialektik der Aufklärung" deutlich wird, wie eng Griechen und Deutsche miteinander und mit Europa verknüpft sind.

Außerdem sorgen gezielte Konflikte dafür, dass der Abend nicht zur anekdotischen Wohlfühlveranstaltung wird: Gegen Ende wird heftig darüber gestritten, ob die Demonstrationen in Athen 2011 echte Demokratie waren oder bloß Kitsch, ob die Kriegsreparationen, die Deutschland den Griechen noch schuldig sind, berechtigt sind. "Telemachos", das beim Festival in der Uraufführungskategorie läuft, taugt kaum zum Nachspielen. Aber es ist ein markanter, lebendiger, diskussionswürdiger Schlusspunkt des diesjährigen Gastlands.

 

Telemachos – Should I Stay or Should I Go?
von Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris
Uraufführungs-Inszenierung
Regie: Anestis Azas, Prodromos Tsinikoris, Bühne und Kostüme: Lena Fay, Angela Konti, Soundtrack: Giannis Tsoukalas, Dramaturgie: Jens Hillje, Irina Szodruch, Produktionsleitung: Fabian Langer.
Mit: Sofia Anastasiadou, Knut Berger, Despina Bibika, Kostis Kallivretakis, Christos Moustakias, Prodromos Tsinikoris.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.ballhausnaunynstrasse.de

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